Lernen in Bildern – die Unterstufe

Mit Eintritt in die Schule werden die Kinder fähig, die Welt mit innerlicher seelischer Kraft zu durchdringen. In diesem Alter sind die Kinder gefühlsbetonte Wesen und daran knüpft der Unterricht für die Unterstufe an der Waldorfschule an. Das Seelenleben des Kindes soll durch die Unterrichtsgegenstände in Bewegung gebracht werden; das Erlebnis „die Welt ist schön“ kann entstehen. Durch Erfahrungen und Erzählungen entsteht eine intensiv durchgestaltete soziale Wirklichkeit, in der sich die Individualität des Kindes entwickeln kann.

Das Schreibenlernen in der ersten Klasse beginnt mit Übungen im Formenzeichnen und Malen. Dabei erleben die Kinder die Formen noch losgelöst von ihrer Bedeutung, erst später werden sie diese in den Buchstaben wiederfinden. Das Malen erschließt die reiche Welt der Farben so, dass die Kinder Gefühlsqualitäten an ihnen erspüren lernen. Die Buchstaben entwickeln sich für die Kinder aus Bildern und Erzählungen, wobei der/die Lehrer*in versuchen wird, die Geschichte so reich wie möglich auszuschmücken, um die Phantasie der Kinder zu wecken. Auch in den anderen Fächern wird in dieser Weise verfahren. Rechnen erscheint nicht als abstraktes Zahlenwerk; Heimatkunde, Sternenkunde, Tier- und Pflanzenkunde werden plastisch und lebendig an die Kinder herangetragen. Dies gilt auch für den Fremdsprachenunterricht und alle anderen Fachunterrichte, die an den Hauptunterricht anschließen.

Die einzelnen Fächer ermöglichen die Betonung verschiedener Aspekte bildhaften Lernens, um neben der erforderlichen Wissensvermittlung ein dem jeweiligen Entwicklungsstand des Kindes angemessenes reiches und gesundes seelisches Leben zu ermöglichen. Im Unterricht wird versucht, die einseitige Beanspruchung von Denken, Fühlen und Wollen zu vermeiden oder zumindest zu mildern. Dazu muss er lebendig-abwechslungsreich, eben künstlerisch gestaltet sein, und die verschiedenen Erlebensqualitäten der Schüler*innen ansprechen.

Lernen in Rhythmen – die Mittelstufe

In der Mittelstufe erwacht das allgemeine Weltinteresse, der Charakter des Unterrichts ändert sich, die Natur, andere Völker, Gesetze der Welt werden kennen gelernt. So werden von der fünften Klasse an verstärkt handwerkliche Tätigkeiten und naturwissenschaftliche Fächer eingesetzt, um die heranwachsenden Fähigkeiten der Schüler*innen zu fördern.

Wenn auch die Unterrichtsinhalte und Methoden sich mit den wachsenden Fähigkeiten der Schüler*innen ständig ändern, zieht sich doch eine wichtige Grundlage durch alle Unterrichte hindurch: die Erfahrung, dass rhythmische Vorgänge das Lernen erleichtern. Rhythmus soll alle Tätigkeiten durchziehen, soweit die äußeren Bedingungen es zulassen. So beginnt man den Unterricht mit jeweils altersgemäßen Sprüchen, Gedichten, Balladen, Liedern. Es wird dadurch nicht nur die Sprache der Kinder gefördert, sondern auch der ganze Körper in Bewegung gebracht und in den Lernvorgang mit einbezogen. Auch das Lernen des Einmaleins in der Unterstufe oder der Fremdsprachen wird durch solchen Rhythmus gefördert. Ebenso können wir im Aufbau des einzelnen Unterrichts dafür sorgen, dass die Kinder seelisch ein- und ausatmen können, indem Gedächtnis, Eigentätigkeit und Aufnahmefähigkeit abwechselnd gefordert, Konzentration und Entspannung abwechselnd ermöglicht werden.

Von der fünften Klasse an sind unsere Kinder nicht in Hauptschüler, Realschüler und Gymnasiasten aufgeteilt, sondern sie werden weiterhin zusammen unterrichtet. Die sozialen Erfahrungen im Zusammenleben und -arbeiten in einer Klassengemeinschaft sind ein wichtiges Element der Waldorfpädagogik. Kinder lernen dabei, über viele Jahre miteinander zu lernen, zu leben, sich zu freuen oder zu ärgern. Waldorfpädagog*innen werden deshalb häufig gefragt, wie es denn möglich sei, Kinder in solch unausgelesenen Klassen zu unterrichten, ohne ihnen mit Noten oder Nichtversetzung drohen zu können. Eine Methode dafür ist, die Motivation der Schüler durch die Anwendung rhythmischer Gesetze zu fördern.

Im Hinblick auf die sozialen Lernerfahrungen ist es ein ganz besonderes Ereignis, wenn die gesamte achte Klasse ein Bühnenstück aufführt. Das Traditionelle „Achtklassspiel“ fordert alle Fähigkeiten der Schüler*innen zu einer Gemeinschaftsleistung, mit der sie die Klassenlehrer*innenzeit abschließen, um in der Oberstufe dann einem Kollegium von Fachlehrer*innen gegenüber zu stehen.

Erziehung zur Freiheit – die Oberstufe

In der Oberstufe gelangen unsere Schüler*innen vom Interesse an der Welt zum selbstständigen Urteil. Diese Haltung wird für ihren gesamten Lebensweg bedeutsam sein, auf den wir sie nach der zwölften bzw. dreizehnten Klasse entlassen. Die physische Geschlechtsreife, die schon vor der neunten Klasse abgeschlossen ist, markiert einen neuen Lebensabschnitt. Rudolf Steiner weist darauf hin, dass man treffender von „Erdenreife“ sprechen sollte, denn diese Zeit beinhaltet nicht nur das erwachende Interesse für das andere Geschlecht, sondern auch die Möglichkeit, Interesse für die Welt überhaupt zu entwickeln, aus eigenem Antrieb heraus, und nicht mehr durch die Vermittlung einer erwachsenen Persönlichkeit. Dies ist das Alter der Extreme: „Ich“ und „Welt“ sollen zusammenkommen. Genauso besteht die Tendenz, sich nur mit sich selbst beschäftigen zu wollen, sich von der Welt abzuschnüren.

Um zu einer reifen, würdigen Lebensgestaltung hinzuführen, versuchen die Waldorflehrer*innen ein umfassendes Weltinteresse bei den Schüler*innen dieses Alters zu wecken – d.h. gegebenenfalls die Schüler*innen regelrecht „von sich selbst“ abzulenken. Dafür wird eine große Stofffülle geboten. Im Laufe der vier Oberstufenjahre wird alles, was in den ersten acht Jahren an die Schüler*innen herangeführt worden ist, noch mal aufgegriffen und auf einer neuen Ebene behandelt. Jetzt wollen wir Jugendlichen zum selbständigen Beurteilen führen: eigenständiges Erkennen in den natur- und geisteswissenschaftlichen Fächern, eigenes künstlerisches Gestalten und praktisches Tun werden angestrebt. Der junge Mensch steht jetzt einem Kollegium von Fachlehrer*innen gegenüber, von denen jeder als Spezialist in sein Gebiet einführen kann.

In der Oberstufe, neunte bis zwölfte Klasse, können und müssen Inhalte in ganz anderer, altersgemäßer Form präsentiert werden. Der Blick für die Lebenswirklichkeit soll auch hier nie verloren gehen. Verschiedene Praktika dienen diesem Anliegen, Technologie und Informatik treten als Fächer hinzu. Sie sollen das Interesse an der Welt erhalten und erwecken und Weltfremdheit vermeiden helfen.

In der zwölften Klasse gibt es zum Abschluss der Schulzeit eine Klassenfahrt in Verbindung mit der Architekturepoche. Ein Theaterspiel führt die Klasse am Ende ihrer gemeinsamen Zeit als soziales Ganzes auf andere Weise nochmals zusammen. Als individuellen Schulabschluss führt jeder Schüler eine so genannte Jahresarbeit durch. Das ist ein selbstgewähltes Projekt, das im Laufe eines Jahres erarbeitet und schließlich öffentlich präsentiert wird.